Teil 2 – Martin Kersting: Personalpsychologie in der Praxis

In unserer Interviewreihe mit Expert:innen aus dem Personalbereich stellen wir regelmäßig interessante Menschen vor. Heute folgt der zweite Teil unseres Interviews mit Martin Kersting. Los geht‘s…

In nahezu jeder Wissenschaft gibt es eine Kluft zwischen Praxis und Theorie. Wie würden Sie diese für die Personalpsychologie einschätzen?

Im HR Bereich allgemein erreicht der Scientist-Practitioner Gap legendäre Größe. Wissenschaft und Praxis leben hier häufig aneinander vorbei, die Wissenschaftler:innen kümmern sich zu wenig um die Themen der Praktiker:innen die ihrerseits die Erkenntnisse der Wissenschaft zu häufig ignorieren – hier besteht wirklich enorm viel Luft nach oben. In HR werden in vielen Bereichen überaus fragwürdige Techniken praktiziert und angewendet. Dies ist besonders bedrohlich, wenn man bedenkt, dass die digitale Transformation Systeme hervorbringt, die eine enorme Wachstumsfähigkeit (Skalierbarkeit) besitzen. Eine unsinnige Anwendung ist dann nicht mehr auf einen kleinen Anwendungsbereich begrenzt, sondern schadet gleich vielen Personen.

Welche Hürden sehen Sie für den Transfer? Glauben Sie, dass sich dieser in der Zukunft verändert?

Eine der größten Hürden ist es m.E., dass jede(r) in ihrer / seiner Welt lebt und sich an den jeweiligen „Belohnungssystemen“ orientiert. Wissenschaftler:innen streben u.a. nach Publikationen in englischsprachigen, peer-reviewed Fachzeitschriften – die in der Praxis kaum gelesen werden. Praktiker:innen werden „belohnt“, wenn sie „Macher:innen“ sind, nicht grübeln, sondern Handeln. Man darf auch davon ausgehen, dass der Personalbereich nicht gerade Menschen anzieht, die ein besonderes Faible für Zahlen haben. Um eine Evaluation zu verstehen oder das eigene Handeln systematisch zu überprüfen benötigt man aber zumindest ein Grundlagenverständnis für Statistik und für die Grundlagen empirischer Forschung.

Ich denke, dass ein viel stärkerer Austausch zwischen Wissenschaftler:innen und Praktiker:innen uns weiterbringen kann. Dazu müssen beide Seiten sich öffnen.

Ein Grund dafür, dass ich dennoch optimistisch in die Zukunft schaue, sind zwei eigentlich unerfreuliche Entwicklungen: Die Arbeitsverdichtung und der Personalmangel. Aufgrund der Arbeitsverdichtung müssen Organisationen ihre Prozesse überprüfen und häufig digitalisieren. Die Digitalisierung erfordert es, dass viele Entscheidungen, die bislang „aus dem Bauch heraus“ mal so und mal so getroffen wurden, eindeutig geregelt werden. Dies setzt ein Nachdenken in Gang, welche Regeln sinnvoll sind.

Der Personalmangel kann ebenfalls Treiber einer Qualitätsverbesserung sein. Im Bereich der Personalauswahl war es früher so, dass sich auf eine offene Stelle sehr viele hochqualifizierte Personen beworben haben. Mit einer minimalen Vorauswahl, z.B. explizit nach (Hoch-)Schulnoten oder implizit nach sozio-ökonomischen Status, konnte man dafür sorgen, dass nur noch grundsätzlich geeignete Personen zum eigentlichen Auswahlverfahren zugelassen wurden. Sagen wir vereinfacht, fast alle, die nach der Vorauswahl zum Verfahren angetreten sind, waren auch geeignet (das ist die so genannte „Basisquote“). Unter den vielen geeigneten Personen mussten nur relativ gesehen wenige ausgewählt werden (die so genannte „Selektionsquote“). Unter diesen Umständen hat die Qualität des Auswahlverfahrens keine Rolle gespielt. Auch Personaler:innen, die die absurdesten Techniken praktiziert haben, waren „erfolgreich“ – es war fast unmöglich, unter einer großen Zahl von Geeigneten einen Ungeeigneten zu rekrutieren. Das ist nun anders, jetzt kommt es darauf an, unter wenigen Bewerber:innen bei hohem Druck, die Stelle rasch zu besetzen, Potenziale zu erkennen und keine Potenziale zu übersehen – auch bei Bewerber:innen, die auf den ersten Blick vielleicht „anders“ sind. Jetzt zahlt es sich endlich aus, wenn man sein Fach versteht. Wenn der Wind rauer wird, zeigt sich, dass Eignungsdiagnostik nichts für Amateurinnen und Amateure ist.

Vergleichbar verhält es sich im Bereich der Personalentwicklung, wir können es uns nicht mehr erlauben, Mitarbeiter:innen zu sinnlosen Veranstaltungen zu senden, die von Personen mit Guru-Status, aber ohne überzeugende Konzepte durchgeführt werden, deren Visionen sich bei kritischer Betrachtung als Illusionen erweisen.

Welche Tipps würden Sie Berufseinsteiger:innen im HR mit auf den Weg geben?

Ich gehe einmal davon aus, dass man beim Berufseinstieg aufgrund einer vernünftigen Ausbildung über die wesentlichen fachlichen Grundlagen verfügt, wobei es natürlich wichtig ist, „dran zu bleiben“, dazu zu lernen. Wir reden zwar viel vom „lebenslangen“ Lernen, aber die Praxis ist diesbezüglich m.E. gerade auch im HR Bereich defizitär.

Zum Berufseinstieg kommt es darauf an, sich für die Organisation und ihre Schnittstellen zu interessieren. Was sind die Aufgaben der Organisation? Womit verdient die Organisation ihr Geld oder was tut sie mit dem Geld, dass sie von anderen (z.B. den Steuerzahler:innen) erhält? Was macht sie bei der Erbringung der (Dienst-)Leistungen erfolgreich? Was macht die Kund:innen, was macht die Mitarbeiter:innen zufrieden? Was sind die wesentlichen Kennzahlen, die die Kosten-Leistungsrelation des eigenen Bereichs abbilden? Wie wird sich der eigene Bereich und die Gesamtorganisation in den nächsten Jahren weiterentwickeln? Was machen vergleichbare Organisationen ähnlich, was machen sie anders? Was sind das für Menschen in der Organisation, wer sind die Kund:innen? Usw.

Welche „Sprache“ spricht man dort? Man muss lernen, wie der Job auszuführen ist und seine eigene Rolle finden – aber auch den Job und die eigene Rolle mit-definieren. Wichtig ist eine gelungene Sozialisation, für den gelungenen Einstieg ist es wichtig, die Werte und Normen der Organisation kennen zu lernen. Was nicht bedeutet, dass man alles unreflektiert übernehmen soll und muss, es ist wertvoll, dass neue Leute neue Perspektiven in eine Organisation tragen und eine gewisse professionelle Distanz zu den täglichen Anforderungen des Berufs und der Organisation schadet m.E. nicht.

Wichtig ist es, proaktiv zu sein, (Nach-)Fragen zu stellen, Feedback zu erbitten und zu netzwerken.

Gut ist es, sowohl eine Mentorin / einen Mentor zu haben als auch Personen, die in einer ähnlichen Situation (Berufseinsteiger:innen) sind – das können auch Personen außerhalb der eigenen Organisation sein.

Ich möchte aber auch an die Verantwortlichen in den Organisationen appellieren, sich fachlich und menschlich um die Berufseinsteiger:innen zu kümmern, ein systematisches onboarding aufzusetzen, sich Zeit für die „Neuen“ zu nehmen, sie aktiv zu begleiten und zu unterstützen, sie an den spannenden Dingen und Herausforderungen teilhaben zu lassen, auch prestige-trächtige und beliebte eigene Aufgaben an sie abzugeben und zu erleben, dass die „Neuen“ das auch alleine hinbekommen.

Im Rückblick denke ich, dass ich mein Studenten- und Berufsleben engagiert angegangen bin. Das allein hätte aber nicht ausgereicht, wenn ich nicht das Glück gehabt hätte, in der Uni und im Beruf immer wieder auf Menschen zu treffen, die mir vertraut haben, die mir etwas zugetraut haben, die mir Chancen gegeben haben, die mich bei Fehlern meinerseits nicht fallen gelassen haben, die mich unterstützt haben. Dafür bin ich sehr dankbar und versuche, es nun mit den jungen Menschen, mit denen ich zu tun habe, ähnlich zu handhaben.

Danke für das Interview und die Zeit, die Sie sich genommen haben!

Das “Personalmagazin” zeichnete ihn viermal in Folge als einen der “führenden Köpfe des Personalwesens” aus, zweimal schaffte er es bereits unter die ersten drei Plätze bei der Vergabe des Titels “Professor des Jahres” (Kategorie Medizin / Naturwissenschaften).

Prof. Dr. Martin Kersting ist Diplom Psychologe; in seinem Fachgebiet, der Personalpsychologie verfügt er über langjährige praktische und fachliche Expertise.

Durch seine Tätigkeit als Berater für Eignungsdiagnostik und Personalentwicklung, Vorsitzender des Diagnostik- und Testkuratoriums und seinen Mitgliedschaften in diversen Organisationen, wie unter anderem dem Forum Assessment e.V. und dem Ethikbeirat HR Tech, zählt er zu den absoluten Koryphäen seines Gebietes.

Zudem ist er außerdem auch Mitglied der DIN-Kommission und Mitautor der DIN 33430, einer praxisorientierten Prozessnorm, die Qualitätskriterien für die Auswahl, Planung, Durchführung sowie Auswertung von berufsbezogenen Eignungsbeurteilungen formuliert.

Aktuell ist er als Universitätsprofessor für Psychologische Diagnostik an der Justus-Liebig-Universität Gießen tätig.

Als Mitautor verschiedener Tests zu kognitiven und sozialen Kompetenzen sowie zahlreicher Publikationen und Vorträge zu wirtschafts- und personalpsychologischen Themen ist er durchaus eine Instanz der HR-Szene.

Mehr zu den Forschungsinteressen, Publikationen und Arbeitsschwerpunkten von Martin Kersting finden Sie unter www.kersting-internet.de.

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