Adrian Sigel: Recruitingprozesse sind wie Rutschen auf dem Spielplatz

In unserer Interviewreihe mit Expert:innen aus dem Personalbereich stellen wir regelmäßig interessante Menschen vor. Wir sprechen heute mit Adrian Sigel, der für das Personalmarketing und Employer Branding der München Klinik zuständig ist.

FYLTURA: Hallo Adrian, stellst du dich bitte unseren Leser:innen kurz vor?

In den letzten 5 Jahren war ich im Recruiting und Personalmarketing tätig, u.a. bei der Deutschen Bahn und bei der Südwestdeutschen Medienholding (SWMH). Zur SWMH gehört u.a. die Süddeutsche Zeitung, die auch hauptsächlich der Bereich ist, den ich recruiting-seitig betreut habe. Ich würde behaupten, dass ich im Recruiting inzwischen vieles gelernt und v.a. kennengelernt habe: Unzählige Einstellungen, vom Forstwirt bis zum Scrum-Master, vom Werkstudenten bis zur Führungskraft, vom Speed-Dating-Vorstellungsgespräch bis zum mehrtägigen Assessment Center – in ca. 1500 Tagen Recruiting erlebt man so einiges!

Habt ihr eigentlich bei der SZ bzw. SWMH in 2020/2021 eingestellt?

Wir haben im März und April 2020 die Stopp-Taste gedrückt, um die kurzfristigen und langfristigen Auswirkungen der Pandemie auf die Mediengruppe insgesamt sowie auf das Recruiting selbst abzuschätzen. Quasi über Nacht haben wir unser Recruiting anschließend komplett ins Digitale transferiert – das klappte auf Anhieb beeindruckend gut. Unsere kurze „Verschnaufpause“ im vergangenen Frühjahr haben wir genutzt, um interne Prozesse zu schärfen und unser Reporting zu verbessern.

Von der Transportbranche in die Medienbranche und nun zur Gesundheitsbranche - was sind die Unterschiede in Employer Branding und Recruiting?

Ich würde eher die Gemeinsamkeiten betonen: Wichtig ist – völlig unabhängig von der Zielgruppe – stets von den potentiellen Kandidaten und Kandidatinnen aus zu denken: Wo sind diese, wo informieren sie sich, wo tauschen sie sich untereinander aus, worauf legen sie Wert etc. Wenn man die unternehmenseigenen Prozesse von dieser Perspektive aus denkt und konzipiert, macht man schon vieles richtig.

Du warst bzw. bist in Branchen tätig, in denen das Recruiting als besonders herausfordernd gilt. Ingenieure bei der DB, IT-Spezialisten bei der SZ, nun medizinische und Pflegeberufe. Was ist bei der Personalgewinnung dabei besonders herausfordernd?

Ich würde behaupten, dass beim Personalmarketing und Recruiting nicht die einzelnen Schritte für sich besonders komplex oder herausfordernd sind, sondern das sinnvolle Ineinandergreifen aller Einzelschritte. Dies sehe ich als Hauptaufgabe der zuständigen Personen.

Als Vater einer kleinen Tochter und somit häufiger Spielplatz-Besucher, wage ich folgende Metapher: Recruitingprozesse sind wie Rutschen auf dem Spielplatz.

Genau wie eine Rutschpartie sollte ein Recruitingprozess reibungslos, souverän und schnell ablaufen.

Der Recruiter ist in unserer Metapher die helfende Hand der daneben stehenden Eltern und somit für den (Rutsch-)Prozess verantwortlich. Er sorgt dafür, dass die Rutschpartie nicht ins Stocken gerät, sonst drängeln oben schon die nächsten. Manchmal “flutscht” es nicht so richtig, dann ist es die Aufgabe des Recruiters etwas anzuschieben – hier schaue ich in Richtung aller am Recruitingprozess beteiligten Stakeholder.

Gleichzeitig ist der Recruiter auch für eine zeitnahe und sanfte Landung zuständig. Das heißt, wir sollten einen harten, unerwarteten Aufprall vermeiden – idealerweise für alle Beteiligten.

Ach ja, genau wie Rutschen darf ein Recruitingprozess durchaus auch Spaß machen. Das vergessen leider einige in unserer Branche manchmal und verwechseln pseudo-strenges Auftreten mit seriöser Personalauswahl.

Wenn man in die Unternehmen reinschaut, bemerkt man eine weitere Parallele: Recruitingprozesse sind so verschieden wie die Rutschen auf Spielplätzen: Manche sind schnell und fordernd, andere sind kurvig und seltsam, und manche machen überhaupt keinen Spaß und werden daher von den Kindern bzw. Kandidaten:innen konsequent gemieden.

Und, last but not least:

HR ist sein eigener TÜV!

Regelmäßig sollte daher die eigene Rutsche inspiziert werden um zu sehen, ob diese nach wie vor beliebt, sicher und verlässlich ist. Also, ab auf den Spielplatz!

Wie lebt man Transparenz im Recruitingprozess?

Bewerbungsprozesse sind aus Sicht der Bewerber:innen ja leider oft eine klassische Black-Box: Ich werfe mein digitales Briefchen ein und habe erstmal keine Ahnung, wann sich jemand meldet und wer. Auch während des Prozesses, z.B. nach einem ersten Vorstellungsgespräch, werden viele Bewerber:innen leider oft im Dunklen gelassen:

Wie viele Gesprächsrunden gibt es? Wer nimmt daran teil? Was ist das Format des Gesprächs? Dem haben wir bei der SWMH/SZ stets versucht entgegen zu wirken, in dem wir die Prozesse möglichst transparent schildern: So sieht das Format aus, diese Personen nehmen teil, diese Bestandteile gibt es, was passiert danach, wann gibt es eine Rückmeldung etc. Eigentlich keine Rocket Science, aber leider noch immer häufig etwas Besonderes, wie wir durch das Feedback der Bewerber:innen erfahren.

Was sollte HR aus deiner Sicht tun, um als Serviceeinheit akzeptiert zu werden?

Ich finde, HR sollte mehr sein, als nur eine Serviceeinheit. Klar, de facto stellen Personalmarketing und Recruiting eine Dienstleistung für die Fachbereiche im Unternehmen dar. Wer sich allerdings an dieser Perspektive orientiert, wird Serviceeinheit bleiben.

Idealerweise sind Personalmarketing und Recruiting so nah wie möglich an den Fachbereichen dran, bestenfalls physisch wie kulturell.

Ein Beispiel: Einige Zeit hatte ich den Luxus eines zweiten Arbeitsplatzes im 19. Stock des SZ-Hochhauses, d.h. nicht in der Personalabteilung, sondern direkt in dem Bereich, für den ich rekrutiert habe. Auch wenn es banal klingt: Durch die physische Nähe bekommt man mehr mit, erhält tiefergehende Einblicke, vernetzt sich – und sei es nur beim vielzitierten Plausch an der Kaffeemaschine. All diese Eindrücke machen das Recruiting besser, da authentischer. Wenn man diesen Luxus nicht hat, was wohl für die allermeisten Recruiter die Realität ist, sollte man sich als Recruiting-Einheit nicht in der HR-Bubble vom Rest des Unternehmens abkapseln, sondern weiterhin die Nähe zu den Bereichen suchen, für die man rekrutiert.

Ich gehe beispielsweise sehr gerne mit den neuen Mitarbeiter:innen zusammen zum Mittagessen, wenn sie bei uns gestartet sind. Zum einen ist das ein schöner Abschluss des erfolgreichen Prozesses, zum anderen bleibt man nah an den relevanten Inhalten dran – und hat oft tolle Gesprächspartner!

Du hast eine Zusatzausbildung zum Systemischen Berater. Welche Aspekte daraus kannst du im Recruiting übernehmen?

Ich erlebe immer wieder, dass besonders Kandidat:innen für Junior-Stellen, also Berufseinsteiger:innen, in den Vorstellungsgesprächen ziemlich aufgeregt sind.

Hier läuft man also Gefahr, dem Akteur-Beobachter-Effekt, auch fundamentaler Attributionsfehler genannt, zu erliegen.

Dieser besagt, dass man die Nervosität v.a. auf den Charakter der Person, weniger auf die Situation attribuiert. Eine gewisse Anspannung, in der Psychologie spricht man von Arousal, ist in solchen Situationen ja auch hilfreich, weil man fokussiert ist; zu viel ist aber schlecht. Wenn ich also bemerke, dass Kandidaten:innen übermäßig nervös sind, spreche ich es einfach an und versuche die Nervosität gemeinsam mit ihnen zu visualisieren und zu skalieren: „Auf einer Skala von 1 (= am Pool liegend mit Cocktail) bis 10 (= zitternd vor Aufregung): Wie nervös bist du gerade? Und: Was wäre ein guter Wert? Und was können wir tun, um diesen Wert zu erreichen?“

Oft schlage ich dann vor, dass die Kandidaten und Kandidatinnen sich zurücklehnen dürfen, und zunächst die anwesende Führungskraft und ich ganz entspannt uns vorstellen. Klingt kompliziert, dauert aber als systemisches Tool ca. 2 Minuten und funktioniert so gut wie immer.

Lieber Adrian, herzlichen Dank für die spannenden Einblicke und deine Bereitschaft zu diesem Interview. Viel Erfolg bei deiner neuen beruflichen Herausforderung!

Adrian Sigel ist Recruiting- und Personalmarketing-Spezialist. Er verfügt über einen Hintergrund als Psychologe sowie über Zusatzqualifikationen u.a. im Recruiting (Social Talent Black Belt in Internet Recruitment) und als Systemischer Berater. Seine HR-Leidenschaft gilt der Candidate Journey mit all ihren Touchpoints.

Zusätzlich engagiert er sich im Rahmen eines Lehrauftrags an der TU München. In seiner Freizeit findet man ihn mit seiner Tochter auf den Spielplätzen Münchens oder beim Sport. Privat interessiert er sich für Nachhaltigkeit und vegane Ernährung.

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